Eine Milliarde Smartphone- und Tablet-Nutzer wischen weltweit ihre Finger über Gorilla-Glas. Kein Wunder also, dass bei Hersteller Corning der Bereich mit dem dünnen, leichten, kratzfesten Glas am stärksten wächst. Wäre Steve Jobs nicht so hartnäckig gewesen, sähe die Entwicklung jedoch anders aus.
Die Geschichte beginnt mit einem Versehen: Der amerikanische Chemiker Donald Stookey hat eine neue Mixtur für lichtempfindliches Glas im Brennofen. Die Temperaturanzeige ist defekt, sodass die Zutaten bei 900 statt 600 Grad Celsius backen. Als er den Fehler bemerkt und den Ofen öffnet, hat das Material eine weiße, milchige Färbung. Er greift zur Zange und stellt sich darauf ein, die verdorbene Probe wegzuwerfen. Beim Herausnehmen rutscht ihm die Probe aus der Greifzange und fällt zu Boden. Doch statt zu zerspringen, hüpft der Klumpen und bleibt unversehrt.
Dies ist 1952 die Geburtsstunde synthetischer Glaskeramik. Stookeys Arbeitgeber Corning Glass Works tauft das Produkt Pyroceram. Unter dem Namen Corning Ware erobert es in Form von Schüsseln und Tellern die US-Haushalte.
Keiner wollte es haben
Mit dem wirtschaftlichen Erfolg investiert das Unternehmen in weitere Materialforschung. Das Projekt „Muskel“ soll noch härteres und unzerbrechlicheres Glas hervorbringen. Im Jahr 1962 ist Chemcor marktreif: Es hält 14-mal mehr Druck aus als klassisches Fensterglas. Bei Corning bricht Jubel aus: Autos, Telefonzellen und Gefängnisfenster will man damit ausstatten. Doch der wirtschaftliche Erfolg bleibt aus: Bis auf wenige Autohersteller hat niemand Interesse. Die Formel für Chemcor verschwindet 1971 schließlich in der Schublade.
Rückschläge kennt das traditionsreiche Unternehmen, das seit 1851 existiert. Doch ist man stolz auf das Erreichte: 1879 hilft man einem jungen Erfinder namens Thomas Edison. Er benötigt eine Glashülle für seinen Leuchtdraht. 47 Jahre später erfindet Corning eine Bandmaschine, nach deren Prinzip bis heute Glühbirnen hergestellt werden. Als zu Beginn des Zweiten Weltkriegs kein Weihnachtsschmuck aus Deutschland mehr importiert werden konnte, stellte man die Produktion in einem Werk von Glühbirnen auf farbige Weihnachtskugeln um.
Stärke und Schönheit
Mit dem technologischen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg wächst auch Corning: anfangs mit Glaskeramik, dann mit Fernsehröhren und Lichtleitern. In den 1990er-Jahren sorgen LCD-Bildschirme für volle Auftragsbücher, ab den 2000er-Jahren sind es die Touchscreens.
Das Segment Bildschirmtechnologie ist bis heute der umsatzstärkste der fünf Unternehmensbereiche. Der börsennotierte Konzern ist im Index der 500 größten US-Aktiengesellschaften vertreten. Weltweit arbeiten 26.200 Menschen für Corning, darunter an fünf Standorten in Deutschland. In Kaiserslautern werden Keramiksubstrate für Katalysatoren hergestellt. Dieser Bereich gehört zur Umwelttechnik. Weitere Sparten sind Telekommunikation, Laborgeräte und Spezialmaterialien. Zu Letzterem gehört das Gorilla-Glas.
Doch von Chemcor bis zum Gorilla-Glas war es ein weiter Weg. 2005 holt Corning die Pläne wieder aus der Schublade. Mit Blick auf den Erfolg von Handys arbeitet man unter dem Projektnamen „Gorilla“ an härteren Oberflächen. Doch deutlich dünner als die früheren vier Millimeter wird das Glas nicht. Äußerlich manifestiert sich die Veränderung in einem griffigeren Markennamen. „Gorilla-Glas ist eine einmalige Kombination von Schönheit und Stärke, genau diese Eigenschaften hat auch der Silberrücken-Gorilla“, erklärt eine Unternehmenssprecherin.
Das klingt ein wenig bemüht, eröffnet aber neue Möglichkeiten im Marketing. Seit Oktober 2011 unterstützt Corning die Arbeit des Dian Fossey Gorilla Fund International zum Schutz und Erhalt der Affen. Auch die Webseite für das kratzfeste Glas kommt deutlich moderner daher als der Unternehmensauftritt. Doch zu ihrem großen Glück mussten die Glasmacher von der Ostküste erst getrieben werden.
Der Einflüsterer Steve Jobs
Im Jahr 2006 besucht Steve Jobs Corning. Ein Bekannter hatte ihm von Chemcor und den jüngsten Versuchen mit kratzfestem Glas erzählt. Laut Biograf Walter Isaacson nahm Jobs im Büro des Firmenchefs Wendell P. Weeks Platz und begann sofort mit einer Lehrstunde in Sachen Glasproduktion. Weeks staunte nicht schlecht, war er doch bereits seit 1983 im Unternehmen tätig. „Können Sie mal still sein“, unterbrach er den Apple-Chef. „Ich werde Ihnen jetzt mal etwas über Chemie erklären.“ Dann folgte eine Abhandlung über den Ionenaustauschprozess bei der Glasherstellung.
Weeks berichtete, dass Gorilla-Glas noch im Laborstadium sei. Er glaube auch nicht, dass Menschen Filme und Fernsehen auf kleinen Handy-Bildschirmen sehen wollen. Darum experimentieren seine Ingenieure mit Laser-Projektion in tragbaren Geräten. Jobs tut das als „dumme Idee“ ab, aber dieses Gorilla-Glas sei genau das Richtige für seine Pläne: „Ich möchte davon so viel, wie Sie in sechs Monaten produzieren können.“ Weeks schüttelte den Kopf und erklärte ihm, dass bislang kein Standort Gorilla-Glas produziere. So schnell ginge das auch nicht.
Jetzt kam Jobs’ berühmtes Reality Distortion Field zum Einsatz. Die Fakten interessierten ihn nicht, und er beschwor Weeks: „Haben Sie keine Angst, Sie können das schaffen.“ Einigermaßen beeindruckt ließ der Corning-Chef sein Werk in Harrodsburg, Kentucky, praktisch über Nacht von LCD-Bildschirmen auf Gorilla-Glas umstellen. Zum Start des ersten iPhones im Herbst 2007 war ausreichend Glas vorhanden. Heute ziert eine gerahmte Nachricht das Büro von Weeks: „Wir hätten es nicht ohne euch geschafft, Steve Jobs.“
Wachstumsmotor
Das Segment Spezialmaterialien ist heute der stärkste Wachstumsmotor im Unternehmen. 2012 schaffte es ein Plus von 68 Prozent. Neben Harrodsburg wird das Glas in Japan und Taiwan gefertigt, um näher an der Endmontage zu sein.
Zu Jahresbeginn stellte Corning die dritte Generation Gorilla-Glas vor, deren Oberfläche dreimal so kratzfest sein soll wie beim Vorgänger. Zwar kennt jeder jemanden, dessen iPhone oder iPad nach einem Sturz einen Glasschaden hatte. Doch geht es in erster Linie um Oberflächenhärte. Münzen und Schlüssel in der Tasche sollen das Glas nicht zerkratzen. Laut Unternehmensprospekt treten Kratzer erst ab einer Belastung von 15 Kilogramm auf. Beim Gorilla-Glas II sind es 7,5, bei gehärtetem Glas aus Natronkalk gerade mal ein Kilogramm. Gleichzeitig ist Gorilla-Glas mit 0,5 bis 4 Millimetern extrem dünn und leicht.
Corning schätzt, das bei 975 Smartphone- und Tablet-Modellen Gorilla-Glas zum Einsatz kommt. Insgesamt eine Milliarde Geräte seien bereits damit ausgestattet. Auf der Kundenliste stehen alle namhaften Hersteller von Acer über Dell und HTC bis Samsung und Sony. Nur einer fehlt: der erste Abnehmer Apple. Corning darf nicht sagen, ob dieser weiterhin Gorilla-Glas einsetzt.
Nach dem Gorilla kommt die Weide: „Willow-Glass“ nennt Corning sein neues hauchdünnes und biegsames Glas, dass von der Rolle läuft. Es eignet sich für gebogene Oberflächen, etwa bei Uhren, die sich um das Handgelenk schmiegen. Die Gerüchte um eine iWatch von Apple hat das befeuert, doch Corning hält das Produkt frühestens 2016 für marktreif. Mal sehen, ob wieder jemand das Unternehmen vom Gegenteil überzeugen kann.